Fern von der Rosinkawiese by Pausewang Gudrun

Fern von der Rosinkawiese by Pausewang Gudrun

Autor:Pausewang, Gudrun [Pausewang, Gudrun]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Am nächsten Tag, dem 10. Juni, einem Sonntag, erreichten wir die Görlitzer Neiße. Wir nahmen uns keine Zeit, in ihr zu baden. Man hätte uns das, da sie ja ein Grenzfluß war, sicher auch nicht erlaubt. Nur hinüber, hinüber!

Aber kurz vor dem Brückenkopf gab es wieder einen unfreiwilligen Aufenthalt: Aus einem Gebäude, das als Kommandantur oder eine ähnliche Schaltstelle der Besatzungsmacht gekennzeichnet war, kamen zwei Soldaten und nahmen die Mutter und Frau Volland mit. »Arbeit, Arbeit!« bekamen sie auf ihre erschrockenen Fragen zu hören. Und schon waren sie verschwunden.

Was blieb uns anderes übrig, als zu warten? Vom Bürgersteig vor der Kommandantur wurden wir von einem Wachsoldaten unfreundlich weggescheucht. Also warteten wir auf dem gegenüberliegenden Trottoir. Wir hockten am Bordstein, an die Wagen gelehnt, und wenn einer von uns mal mußte, verschwand er in einer Ruine um die nächste Ecke. Nach einer Stunde wurden wir unruhig. Was, wenn sie hier bis zum Abend festgehalten wurden? Sollten wir uns inzwischen eine Unterkunft suchen? Wölfchen weinte vor sich hin.

Frau Müller schlug vor, in die Kommandantur hineinzugehen und nach den beiden zu fragen. Aber ich zögerte. Möglicherweise forderte so ein Drängen dazu heraus, die Frauen noch länger dazubehalten. Und uns noch dazu! Dann wären die Kinder allein gewesen.

Wir beobachteten die Flüchtlinge, die vorüberzogen. Alle wanderten in Richtung Brücke, viele kamen wieder zurück. Manche hockten sich so wie wir auf den Bordstein und hielten mit verstörten Gesichtern Rat. Diese wollten den Übergang noch einmal versuchen, jene gaben resigniert auf. Manchen, die besonders auffielen, waren wir schon irgendwo begegnet, zum Beispiel den drei Frauen, die, wohl um sich vor Zugriffen zu schützen, ein großes Schild an ihren Bollerwagen gebunden hatten mit der Aufschrift: Achtung-Typhuskrank! Und auch die blonde, kinderreiche Familie mit den großen gelben Judensternen auf Brust und Rücken kannten wir schon. Wir bezweifelten, daß sie wirklich Juden waren. Aber die Idee war gut. Wer in KZ-Kleidung oder mit dem Judenstern über die Landstraßen wanderte, wurde von Russen und Polen mit großer Hochachtung behandelt und konnte überall mit Unterstützung rechnen. Die Idee war gut — aber skrupellos und makaber.

Wir kannten sie inzwischen zur Genüge, die verschiedenen, oft phantasievollen Tarnideen. Wie viele der alten, gebückten Frauen unter den weit ins Gesicht gezogenen Kopftüchern waren gar nicht alt, wenn man näher hinsah! Wie viele jungen Frauen und Mädchen hatten ihre Gesichter mit Schmutz, mit Ruß beschmiert, um unbehelligt durchzukommen!

Und immer wieder trotteten Kinder an uns vorbei, Kinder, die keine Eltern mehr hatten oder unterwegs durch kleine Zufälle, durch verhängnisvolle Umstände von ihren Eltern oder erwachsenen Begleitern getrennt worden waren.

Gotli und Volker schliefen. Als sie aufwachten und merkten, daß die Mutter noch immer nicht zurückgekommen war, weinten auch sie. Wir Großen versuchten sie zu trösten. Und ich begann nun doch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, eines meiner Geschwister auf unserem Warteplatz als Wache aufzustellen und mit den anderen ein Quartier für die Nacht zu suchen. Aber ein Kind hier allein stehenlassen? Das war zu riskant. Und was, wenn die Mutter überhaupt nicht wiederkäme? Dann würden wir genau so wie diese Rudel verlassener Kinder weiterwandern.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.